Mit Würde – und mit Steinen

Ein paar Jahre nach meiner Erleuchtungserfahrung erlebte ich eine ganze Reihe von Ereignissen, die mich zwangen, zu wachsen. Es erschien mir einfach unmöglich, ihnen auszuweichen.
Damals lebte ich schon seit einigen Jahren in diesem niedlichen Häuschen auf dem Land. Als ich eingezogen war, stand es mitten in einem düsteren, zugewucherten Urwald. Denn es hatte mehrere Jahre lang leer gestanden und auch davor hatte sich anscheinend niemand für den Garten interessiert. So kam ins Haus kaum noch Sonnenlicht, weil rundherum riesige Fichten und in die Höhe gewucherte Büsche das gesamte Grundstück sehr dunkel machten.
Nachdem ich mir das Häuschen schön eingerichtet hatte, fing ich also an, mir den Garten vorzunehmen. Ich hatte kaum Erfahrung damit, aber es machte mir solche Freude, Stück für Stück diesen Dschungel in ein Paradies zu verwandeln! Meine Vermieterin, die in Portugal lebte, ließ mir dabei nicht nur völlig freie Hand, sondern sie übernahm sogar die Kosten, als ich nach und nach mehrere der Fichten fällen ließ.
Den Rest machte ich allein und manchmal waren meine Aktionen richtig halsbrecherisch. Als ich zum Beispiel riesige Büsche in drei Meter Höhe absägte oder einige schon ziemlich große Traubenkirschen mit meiner Bügelsäge fällte.
So verwandelte sich das Grundstück im Laufe der Jahre in einen wunderschönen Garten. Alles wurde hell und freundlich und es entstanden rundherum Rasenflächen, die die anfangs so gedrungene Atmosphäre weiträumig machten. Aaah… alles schien aufzuatmen.
Irgendwann hatte ich mich so sehr ausgebreitet, dass der Bereich, den ich gestaltet hatte, schon in die Nähe der Nachbarn reichte. Das Problem war, dass ich nicht wusste, wo genau die Grenze eigentlich verlief. Einmal, kurz nach meinem Einzug, war meine Vermieterin mit mir das riesige Grundstück abgelaufen: mehrere tausend Quadratmeter, die übergingen in einen Wald. Genaue Grenzmarkierungen hatte sie mir allerdings nicht gezeigt und mir nur eine blasse DIN-A4-Kopie einer Liegenschaftskarte dagelassen. Die erschien mir unbrauchbar, um den genauen Verlauf der Grenze auszumachen.
Ich war ganz unsicher. Verlief die Grenze vielleicht schon direkt hinter meinen Blumenbeeten? Genauso gut konnte ich mir aber auch vorstellen, dass sie noch fünf Meter weiter in Richtung der Nachbarn verlief. Je mehr ich darüber nachdachte, desto unsicherer wurde ich. Ich wollte auf keinen Fall die Grenze missachten. Ich wollte nicht aus Versehen einen Busch stutzen oder gar einen Baum absägen, der den Nachbarn gehörte. Aber gleichzeitig wollte ich mir so gerne alles schön machen, was zu „meinem“ Grundstück gehörte.
Während ich noch darüber nachdachte, sah ich Heiko, meinen Nachbarn, in seinem Garten. Ich ging also zu ihm und fragte ihn, ob er vielleicht wüsste, wo genau die Grenze zwischen unseren Grundstücken verlief. Seine Reaktion erschrak mich sehr. Er wirkte verärgert und schnauzte mich an: „Wieso willst du das wissen?! Das hat hier noch nie irgendwen interessiert – hier herrschte immer Frieden und Einigkeit bevor du hier warst und jetzt kommst du und bringst Unfrieden hierher! Und überhaupt, was wir hier machen, ist alles mit der Eigentümerin abgesprochen. Was sollen diese Fragen, wo du doch nur Mieterin bist?!“
Uuuh. Was war das denn? Ich war sofort eingeschüchtert und musste mich in mein Häuschen verkriechen. Was war denn da los? Hatte ich irgendwas nicht mitbekommen oder falsch verstanden?
Die Nachbarn – eine Familie mit zwei kleinen Kindern – waren zwei Jahre vor mir in ihr Haus gezogen. Aber da stand doch mein Häuschen noch leer. Also… natürlich war es da ein Kinderspiel für sie gewesen, mit niemandem aneinander zu geraten – also was sollte denn so ein unsinniges Argument?
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis ich mich etwas beruhigt hatte und dann rief ich meine Vermieterin an. Ich machte das nur in Ausnahmefällen, weil ich sie nicht mit Sachen nerven wollte, die ich selber regeln konnte. Aber jetzt erzählte ich ihr von dieser merkwürdigen Begegnung und sie meinte, dass sie so gut wie noch nie mit den Nachbarn gesprochen hatte, auch nicht über den Grenzverlauf.
Auch sie fand mein Erlebnis irritierend. Bloß leider konnte sie mir auch nicht sagen, wo genau die Grundstücksgrenze verlief. Und sie meinte, dass eine Neuvermessung so teuer wäre – tausende Euros – dass das leider nicht in Frage käme. Aber sie ermutigte mich, mich trotzdem nicht verunsichern zu lassen und meinen Garten ungehemmt weiter so schön zu gestalten. Außerdem sagte sie mir ausdrücklich, dass ich für sie nicht bloß eine Mieterin sei, sondern ihre Vertreterin, der sie das Häuschen und das Grundstück anvertraut hätte mit der Auflage, mich gut darum zu kümmern und sie sofort zu informieren, falls es Probleme gab. Für sie war ich also eher so etwas wie die Verwalterin ihres Grundstücks. Ich sei für ihr Anwesen verantwortlich, solange sie nicht vor Ort war – also ständig. Als sie mir das alles nochmal so deutlich sagte, fühlte ich mich richtig geehrt, dass sie mir so sehr vertraute.
Nach diesem Telefonat war ich etwas beruhigt. Ich hatte also überhaupt nichts falsch gemacht und Heiko hatte anscheinend absichtlich versucht, mich einzuschüchtern. Ich verstand nicht, warum er so etwas tat. Aber irgendwie passte es auch zu einigen früheren Begegnungen mit ihm. Diese war nur sehr viel aggressiver gewesen.
Was blieb war der ungeklärte Grenzverlauf. Und der ließ mir einfach keine Ruhe. In den folgenden Tagen merkte ich, wie diese Sache an mir nagte. Im Garten wollte ich jetzt überhaupt nichts mehr in der Nähe dieser undefinierten Grenze machen und dadurch fühlte er sich auf einmal viel kleiner an als bisher.
Immer wieder grübelte ich darüber nach, was ich tun konnte. Vielleicht doch nochmal mit den Nachbarn reden, so dass wir uns auf eine Grenzlinie einigen könnten? Hmm… schwierige Vorstellung.
Irgendwann war mir klar, dass ich nur eins tun konnte und dass selbst das mir keine Lösung garantierte: Ich konnte mich auf die Suche nach Grenzsteinen machen und entweder welche finden oder keine finden. Das war meine einzige Chance. Wenn ich das nicht tat, gäbe es keine befriedigende Lösung für mich. Und wenn ich es tat, dann konnte es immerhin sein, dass ich Erfolg hatte. Das hielt ich allerdings für sehr unwahrscheinlich. Denn ich wusste noch nicht mal, ob es überhaupt Grenzsteine gab – eine kurze Recherche hatte ergeben, dass viele Grundstücke keine haben. Und falls doch welche existierten, waren sie wahrscheinlich so alt wie das Haus, also über hundert Jahre alt. Puh, einhundert Mal eine dicke Schicht Herbstlaub. Wie viele Zentimeter – oder Meter – Erde, unter denen die Steine begraben liegen würden, ergab das wohl?
Und dann die Karte. Sie war ja das Einzige, woran ich mich orientieren könnte. Es war nur eine schlechte Kopie und es erschien mir sehr unwahrscheinlich, dass der angegebene Maßstab 1:1000 etwas mit der Realität zu tun hatte.
Aber dann kam mir doch eine Idee: Ich konnte den Maßstab überprüfen. Denn auf der Karte gab es ja etwas, das ich nachmessen konnte: mein Häuschen. Ich ging also raus und maß die längste Hauswand ab. Mit dieser Länge berechnete ich den Maßstab der Karte, und: Es stellte sich heraus, dass 1:1000 gar nicht soo verkehrt gewesen war, es hätte mich aber eindeutig in die Irre geführt. Ich maß nun alles genauer aus: Die gemeinsame Grenze mit den Nachbarn war knapp 70 Meter lang. Und falls die kleinen Kringel auf der Karte anzeigten, dass dort jeweils ein Grenzstein lag, dann gab es insgesamt vier gemeinsame Grenzsteine.
Und nun? Wie weiter? Sollte ich jetzt wirklich mit dem Spaten rausgehen und direkt vor Heikos Augen nach den Grenzsteinen stochern? Uuuh… Ich wurde plötzlich ganz müde. Diese Vorstellung war mir so unangenehm. Als müsste ich mich währenddessen mit Giftpfeilen beschießen lassen. Allein bei dem Gedanken wich alle Kraft aus mir heraus. Noch dazu war es ja sehr wahrscheinlich, dass meine Suche erfolglos sein würde. Dafür würde ich dann hinterher noch eine Ladung Schadenfreude von Heiko kassieren.
Oje. Vielleicht müsste ich doch akzeptieren, dass der Verlauf der Grenze ein ungelöstes Rätsel bleiben würde?
Aber das klappte nicht. Noch ein paar Tage lang versuchte ich, das ganze Thema zu ignorieren. Aber es ließ mir einfach keine Ruhe mehr. Immer wieder holte ich die Liegenschaftskarte hervor. Und um die Entscheidung noch etwas zu verschieben, erstellte ich eine digitale Version der Karte: Ich scannte sie und zeichnete sie mit meinem Grafikprogramm nach. Wenn ich sie am Bildschirm vergrößerte, konnte ich zentimetergenau die Abstände zwischen den Grenzsteinen bestimmen – in der Theorie. Und immer vor dem Hintergrund, dass es vielleicht gar keine Grenzsteine gab.
Aber dann sah ich plötzlich wieder einen kleinen Lichtblick. Der Karte nach gab es einen Stein, der sehr nah bei meinem Haus lag. Dieser Stein läge nicht auf der Grenze zu den Nachbarn, sondern innerhalb meines Grundstücks – anscheinend war es mal geteilt worden. Dieser Kringel auf der Karte lag mitten in einem dichten Gebüsch, fast fünfzehn Meter von der Nachbarsgrenze entfernt. Wenn ich hier mal probeweise nachschauen würde, ob ich überhaupt einen Stein finden konnte, dann könnte ich das vielleicht ganz heimlich machen. Noch dazu konnte ich sogar warten, bis Heiko nicht zuhause war, denn oft bekam ich mit, wenn er morgens mit seinem Auto zur Arbeit fuhr. Falls ich also für einen Moment genügend Mut zusammenkratzen könnte, wollte ich es so machen.
Ich musste nicht lange warten. Als ich mich am nächsten Tag gut fühlte und sah, wie Heiko wegfuhr, nahm ich also mein „Grenzwerkzeug“, das ich mir schon bereitgelegt hatte: Spaten und Handschaufel, eine Mistgabel, eine lange Schnur, einen Zollstock, ein paar Stöckchen und die Karte. Ich ging damit raus zur hintersten Hausecke. Von dort aus spannte ich die Schnur und markierte mit den Stöcken ein paar Stellen, die alle genau 5,47 Meter entfernt im Gebüsch lagen. Dort schaute ich mich um, ob ich irgendetwas Auffälliges sah – nichts. Also fing ich an, mit der Mistgabel zu stochern – nichts. Ich kroch immer weiter weg von meinen Markierungen, weil mein berechneter Kartenmaßstab für mich auch nicht mehr als ein vager Vorschlag war. Nichts zu finden. Und schon gingen mir der Mut und die Kraft aus, so dass ich schnell alles wieder einpackte und mich frustriert auf mein Sofa verkrümelte.
Ach Mensch. Doch keine Lösung in Sicht. Ich war traurig. Und verzweifelt. Irgendwie konnte ich mir inzwischen gar nicht mehr vorstellen, mich mit dieser Unklarheit zu arrangieren. Wie sollte ich mich denn überhaupt noch entspannt in meinem Garten bewegen?
So entmutigt schleppte ich mich weiter durch den Tag. Aber dann, ganz plötzlich, kam auf einmal meine Kraft zurück. Ich dachte: Ich gehe jetzt raus und grabe ALLES um. Und wenn ich wirklich weit und breit keinen Stein finde – dann bin ich bereit, aufzugeben. Also ging ich wieder raus. Ich hatte keine Ahnung, ob dieser Heiko schon zurück war, aber selbst das war mir nun völlig egal.
Ich baute also alles wieder auf und stocherte als erstes an der Stelle, die ich für die wahrscheinlichste hielt. Dort stocherte ich jeden Zentimeter ab und ich stocherte so tief ich konnte. Nichts. Ich stocherte weiter. Nichts. Ich stocherte weiter. Nichts. Ich stocherte weiter. Plötzlich – STOP! Da war etwas. Irgendwas. Direkt neben einem Baumstamm. Sehr tief in der Erde, bestimmt fast einen halben Meter tief. Und es war auf jeden Fall etwas Hartes. Und weil ich nun nichts mehr unversucht lassen wollte, fing ich dort an zu graben. Das war nicht leicht, denn überall wuchsen Efeu und dicke Wurzeln. Aber ich schaufelte weiter, wie besessen. Dann nahm ich meine Hände und buddelte weiter. Bis meine Finger tief unten im Boden plötzlich auf dieses Feste stießen. Als ich weiter wühlte, spürte ich, dass das eine waagerechte Fläche war. Ich buddelte weiter und kurz darauf konnte ich sehen, dass da eine glatte Steinfläche im Boden lag, schräg unter einer armdicken Wurzel. Oh nein, war das doch bloß eine von diesen Natursteinplatten, von denen ich im Laufe der Jahre schon so viele in der Erde gefunden hatte? Ich legte mehr von der Fläche frei und einen Moment später konnte ich Ränder ertasten, und… die Ränder waren abgerundet, aber die Fläche war doch rechteckig – das war ein rechteckiger Stein! Mein Herz raste wild, aber ich traute mich noch nicht zu glauben, dass das wirklich ein Grenzstein sein könnte. Ich buddelte weiter wie ein durchgedrehter Hund in einem Kaninchenloch und war schon völlig nassgeschwitzt. Und dann war glasklar: DAS HIER IST EIN GRENZSTEIN! Es ist MEIN Grenzstein!
Ich war kurz vorm Platzen vor Freude und Erleichterung! Ein Grenzstein!!!
Ich konnte es kaum fassen. Auf einmal öffnete sich alles in mir. Wenn diese össelige Karte mich zu diesem Stein geführt hatte, dann konnte sie ja vielleicht wirklich auch für die anderen Steine taugen! Und wenn es hier einen Grenzstein gab, dann war es gleich viel weniger aussichtslos, noch weitere zu finden!
Ich war so überglücklich. Und ich war auch so stolz auf mich. Ich empfand richtig tiefen, aufrichtigen Stolz darauf, wie tapfer ich weiter gemacht hatte. Ganz allein, ohne Hilfe. Mit nichts als einem grimmigen Nachbarn im Nacken. Bis ich den Stein gefunden hatte. Wundervoll!
Ich fotografierte „meinen“ Stein in seinem Loch von allen Seiten und schickte Bilder an meine Vermieterin – ganz unten auf dieser Seite findest du eins. Dann nahm ich mir wieder die Karte vor. Welchen Stein sollte ich als nächstes suchen? Am wichtigsten war mir die Stelle, an der ich mich gerade mit meinen Gartenprojekten weiter ausbreiten wollte. Aber dort war weit und breit kein Kringel eingezeichnet. Nur die unsichtbare Grenzlinie.
Aber ich hatte wieder eine Idee. Auf der Karte war zur Hälfte auch das Nachbarhaus zu sehen. Daran konnte ich gut den angebauten Holzschuppen erkennen. Das nutzte ich so: Ich zog auf der Karte eine Linie von der Hausecke, an der ich die Schnur gespannt hatte, bis zur äußersten Ecke dieses Schuppens. Diese Strecke maß ich ab bis zur eingezeichneten Grenzlinie: umgerechnet 15,24 Meter. Dann ging ich raus und befestigte wieder meine Schnur. Ich nahm ihr Ende, richtete meinen Blick genau auf Heikos Schuppenecke und ging geradeaus darauf zu. Als Büsche im Weg waren, verlängerte ich die Schnur mit einem Besenstiel, den ich unter dem Gebüsch hindurchschob. Bis ich nach 15,24 Metern auf der anderen Seite die Stelle markieren konnte, an der die Grenze verlief. Dasselbe machte ich mit zwei weiteren Hausecken, so dass ich nun knapp zehn Meter Grenze bestimmen konnte – genau an der Stelle, an der ich endlich weiterarbeiten wollte.
Das Ergebnis überraschte mich sehr: Mein Grundstück reichte viel weiter als ich erwartet hatte. Und: Die Nachbarn hatten sich auf unserem Grundstück ausgebreitet! Sie hatten dort eine Art Parkplatz eingerichtet: Ein Stück gepflasterte Fläche, auf der unter einer Plane lauter Fahrräder, Dreiräder und Tretroller standen. Meine Gedanken überschlugen sich – wusste Heiko das? War er deshalb so wütend gewesen?
Ich erzählte sofort meiner Vermieterin von meiner Entdeckung. Wir waren uns beide nicht sicher, ob sich die Nachbarn wohl absichtlich ein paar Quadratmeter von uns stibitzt hatten. Aber weil die Fahrräder dort nicht wirklich störten, wollten wir deswegen keinen Wirbel machen.
Aber ich wollte nun weitermachen: Dass ich mit meiner Suche so gut vorangekommen war, beflügelte mich so sehr. Jetzt wollte ich die gesamte Grenze zu den Nachbarn ausfindig machen. Also vertiefte ich mich in den folgenden Wochen immer wieder in meine Karte. Zwei weitere Grenzsteine ließen sich ungefähr so leicht – oder schwer – finden wie der erste. Jedes Mal war das ein ganz, ganz bewegender Moment für mich – wie eine super aufregende Schatzsuche! Wie ein Wunder erschien es mir auch, dass all diese Steine wirklich auf den Zentimeter genau dort lagen, wo ich es ausgerechnet hatte!
Und dann, als ich auf den dritten Stein stieß, wurde etwas Unglaubliches deutlich: Er lag an einer Stelle, bei der ich sicher gewesen war, dass sie den Nachbarn gehörte – praktisch mitten in einem Teil ihres Gartens. Es fehlte zwar noch die genaue Stelle des letzten Steins, aber schon jetzt war klar, dass Heiko ca. 250 Quadratmeter unseres Grundstücks in Beschlag genommen hatte! Auf dieser Fläche, die ihm überhaupt nicht gehörte, hatten er und seine Familie es sich gemütlich gemacht: Da standen ein Gartenhäuschen, ein Folientunnel, eine Schaukel, eine Kompostkiste und ein großer Misthaufen für die Gartenabfälle. Rundherum waren alte Äste zu einem meterhohen Wall aufgetürmt – und das alles auf unserem Grundstück!
Ich rief meine Vermieterin an. Sie war sprachlos. Das fand sie nun nicht mehr lustig. Und so formulierten wir gemeinsam einen Brief, in dem sie die Nachbarn aufforderte, sowohl diese große Fläche am Waldrand als auch den Bereich mit den Rädern zu räumen.
Hui… was für eine Entwicklung! Das alles war so aufregend und unerwartet für mich. Bloß trotzdem blieb in mir eine leise Sorge, dass Heiko unseren Brief ignorieren könnte. Was sollte ich denn machen, wenn er sich einfach weigerte, die Flächen zu räumen? Meine Vermieterin war weit weg. Und noch dazu war sie ein wirklich sehr lieber Mensch. Sie mochte keinen Streit und im Zweifel würde sie die Sache vielleicht doch einfach im Sande verlaufen lassen. Ich spürte ganz deutlich: Wenn ich sicher sein wollte, dass alles in meinem Sinne in Ordnung kam, dann musste ich selber dafür sorgen.
Bloß wie? Es war wie verhext: Irgendwie konnte ich mich diesem Heiko gegenüber nach wie vor nicht durchsetzen. Ich war jedes Mal erschrocken und beschämt, wie stumm ich blieb, wenn ich ihn traf. Wie ich mich von ihm an die Wand reden und klein machen ließ. Ich spürte, wie sehr sein Verhalten mich entsetzte und verärgerte, aber meine Wut schien irgendwie in mir gefangen. Aber eben weil diese Gefühle mich nun so sehr bedrängten, musste ich mich mit ihnen auseinandersetzen. Und wie immer: Genau das veränderte mich. So dass es eines Tages eine Begegnung mit Heiko gab, in der ich mich ganz neu verhielt:
Den letzten Grenzstein hatte ich etwas mehr in unsere Richtung gefunden als erwartet. Die Fläche, die Heiko besetzt hatte, war also doch „nur“ ca. 230 Quadratmeter groß. Ich wollte ihm gleich davon erzählen – vielleicht würde ihn so eine relativ positive Nachricht etwas freundlicher stimmen? Leider war das nicht der Fall, denn unser Gespräch verlief so frustrierend wie immer:
Ich: „Heiko, guck mal: Ich habe den letzten Grenzstein gefunden. Es ist das gleiche Modell wie der nächste da oben.“
Heiko: „Ach was, Papperlapapp. Das sind doch alles keine Grenzsteine.“
Ich: „Du meinst, es ist Zufall, dass diese beiden rechteckigen Betonsteine genau 28,35 Meter auseinander liegen – genau so, wie es in der Karte steht?“
Heiko: „Blödsinn, 28,35 Meter! Das sind doch alles nur Zahlen!“
Ich: „Heiko! Das ist die offizielle Liegenschaftskarte vom Katasteramt!“
Heiko: „Ach was, Katasteramt. Die erzählen viel. Was wissen die denn schon, wie das hier aussieht?!“
Ich war schockiert. Und reagierte wie immer: Ich flüchtete. Zurück zum Haus. Heiko ging auch zurück, auf seinem Grundstück, so dass uns ein gut 15 Meter breites Gebüsch trennte. Und dann, aus einem plötzlichen Impuls heraus, rief ich ihm über diesen Blätterwall hinweg hinterher. Meine Stimme war ruhig, aber wegen der Entfernung rief ich sehr laut, so dass bestimmt noch weitere Nachbarn mich hören konnten: „Du reißt deine Klappe aber wirklich ganz schön weit auf – dafür, dass du hier so eine Scheiße gebaut hast!“
Da konnte ich spüren, wie er zusammenzuckte. So kannte er mich nicht – und so kannte ich mich nicht. Zurück beim Haus bog ich ab zu meinem Holzlager, direkt an der Grundstücksgrenze. Dort erwartete Heiko mich schon. Er wirkte gereizt und dann sagte er mit drohender Stimme: „Wie bitte?! Was hast du da gerade gesagt?!“ Und da machte ich etwas für mich ganz Neues: Ich ging auf Heiko zu, bis ich direkt vor ihm stand. Zwischen uns verlief mein nagelneuer Draht, der in Knöchelhöhe die Grenzlinie markierte. Ich sah Heiko an und wiederholte ruhig und deutlich: „Ich habe gesagt: Du reißt deine Klappe aber wirklich verdammt weit auf – dafür, dass du da drüben so eine Scheiße gebaut hast.“
Da konnte er nur noch nach Luft schnappen. Ich spürte es: In diesem Moment war klar geworden, dass ich aufgehört hatte, die kleine, dumme Mareike zu sein, mit der er machen konnte, was er wollte. Er konnte mir keine Angst mehr machen. Ich griff mir eine Kiste Holz und ließ den verdatterten Heiko einfach stehen.
In meinem Wohnzimmer musste ich durchatmen. Wow, das war alles so neu für mich. Ich hatte mich wirklich verändert und dieses Neue fühlte sich soo gut und richtig an! Und in diesem Moment fiel mir plötzlich noch etwas ein: Ich war noch nicht fertig, ich musste noch etwas zu Ende bringen…
Im Frühjahr hatte ich den Garten am Waldrand aufgeräumt. Dort wuchsen seit Jahrzehnten unzählige Rhododendren und Azaleen kreuz und quer vor sich hin. Für mich sahen sie alle viel zu traurig aus: Sie hatten ihre ewiglangen Arme und Fingerchen verzweifelt Richtung Sonne gereckt, wo ihnen dann anscheinend die Puste ausgegangen war, so dass sie am Ende nur noch hier und da ein winziges Blättchen hervorbringen konnten. All diese Pflanzen hatte ich radikal gestutzt. Denn mit solchen Kuren hatte ich gute Erfahrungen gemacht – die Pflanzen trieben bald voller Kraft schön dicht und buschig wieder aus.
Den größten dieser Rhododendren – eine wirklich unglaublich riesige Krake, fast so groß wie mein Häuschen – hatte ich zur Hälfte verschont. Denn seine Äste ragten auf einer Seite rüber zu den Nachbarn. Dort hatte Heiko sie jahrelang immer wieder schön gestutzt, so dass sie inzwischen eine dichte, halbrunde Blätterkuppel genau über seinen besetzten 230 Quadratmetern bildeten. Damals, als ich noch nicht wusste, dass das alles uns gehörte, wollte ich ihm seinen gemütlichen Garten nicht kaputt machen. Also hatte ich diesen uralten Rhododendron zur Hälfte unangetastet gelassen.
Aber jetzt wollte ich niemanden mehr schonen. Also schnappte ich mir meine Säge und stampfte hoch zum Waldrand. Dort sägte ich innerhalb von fünf Minuten diese übriggebliebenen oberschenkeldicken Äste einen knappen Meter über dem Boden ab – und Heikos riesiger Sichtschutz stürzte in sich zusammen und entblößte ab sofort sein dreistes Geheimnis.
Kurz darauf konnte ich zuschauen, wie er Stück für Stück unser Grundstück räumte. Eine Entschuldigung erhielten weder ich noch meine Vermieterin.
Was für eine Wende. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, dann habe ich vor allem meine inneren Prozesse in Erinnerung. Diese Erfahrungen hatten so viel Wut in mir zum Vorschein gebracht und indem ich sie zuließ, konnte ich sie endlich so ausdrücken, dass sie mir wirklich nutzen konnte.
Nicht nur Heiko hatte mich von oben herab behandelt wie ein kleines Dummerchen. Sondern das war ein Muster in mir gewesen. Viele Menschen waren genau so mit mir umgegangen. Weil ich es ihnen erlaubt hatte – und das hatte sich nun verändert.
Das Anstrengendste war für mich jedes Mal gewesen, aus meinem Haus zu treten und mich auf die Suche nach den Steinen zu machen. Da war ein so riesiger Widerstand in mir, dass ich oft nur stundenlang schmerzgekrümmt auf meinem Sofa liegen konnte.
Etwas in mir sträubte sich so sehr dagegen, mich den Blicken meiner Nachbarn auszusetzen. Nicht nur Heiko und seiner Familie, sondern auch seinen anderen Nachbarn, mit denen er befreundet war. Und einer der Grenzpunkte lag auch noch direkt an der Straße. Immer wenn es darum ging, nach draußen zu gehen, fühlte ich mich wie gelähmt: Einerseits wünschte ich mir Klarheit in Bezug auf die Grundstücksgrenze. Aber andererseits wollte ich diesen Menschen nicht begegnen. Aber warum? Warum war da diese überwältigende Abwehr in mir?
Als ich sie zuließ, konnte ich erkennen, dass es mir zwar egal war, was andere Leute über mich dachten. Dass ich wirklich nicht von allen gemocht werden musste. Aber was mich so sehr stresste war, dass andere es oft nicht dabei beließen, mich nicht zu mögen. Es war also nicht so, dass sie merkten, dass sie mich nicht mochten, mich dann links liegen ließen und ihrer eigenen Wege gingen. Nein, in Wahrheit ging es ihnen nur darum, mir meine Freude zu verderben. Ich erkannte ganz deutlich: Sie hatten Spaß daran, mich fertig und klein zu machen.
Vielleicht fragst du dich, ob da nicht ein irrationaler Film in mir ablief, der gar nichts mit der Realität zu tun hatte. Aber ich hatte gelernt, meiner Wahrnehmung zu vertrauen…
Direkt nach meinem Einzug hatte ich solche schlechten Wünsche von Heikos Familie und auch von ihren Nachbarn wahrgenommen. Aber weil wir uns kaum begegneten, war ich mir sicher gewesen, dass ich mir das einbilden musste. Ich wollte niemandem böse Absichten unterstellen. Trotzdem spürte ich diese Negativität so stark, dass ich mir irgendwann erlaubte, drinnen zu bleiben, wenn ich mich zu unwohl fühlte. Ich wollte mich zu nichts mehr zwingen und Raum lassen für eine bessere Lösung.
Und die kam! Denn nach ein, zwei Jahren wurde es ruhiger. Und irgendwann wurde Heiko sogar richtig freundlich zu mir, bis ich eines Tages zum Kaffee bei ihm im Garten saß. Ich fragte ihn, was los war, ob er sich vielleicht mit den Nachbarn gestritten hätte. Und da meinte er: „Ich war es leid und konnte es nicht mehr hören – es hieß immer nur ‚Mareike hier, Mareike da, Mareike hat dieses gemacht, Mareike hat jenes getan – Mareike, Mareike, Mareike‘. Das wurde mir irgendwann zu blöd.“ Huh! Was für eine Bestätigung! Ich hatte mir also überhaupt nichts eingebildet: Diese Leute hatten wirklich von morgens bis abends nichts anderes gemacht, als über mich abzulästern!
Damals hatte ich mir hinter die Ohren geschrieben, dass ich nie wieder meine Wahrnehmung anzweifeln wollte.
Und jetzt bei meiner Grenzsteinsuche hatte ich mich also wieder so schlecht gefühlt bei dem Gedanken daran, raus zu gehen. Ich wollte nicht erleben, wie mein Scheitern diese Leute erfreute. Aber die einzige Möglichkeit, die ich kannte, um solche Demütigungen zu vermeiden, bestand darin, diesen Menschen ganz aus dem Weg zu gehen. Diese Strategie funktionierte aber diesmal nicht, denn wenn ich die Grenzsteine finden wollte, dann musste ich nun das Risiko eingehen, dabei von diesen Leuten gesehen zu werden.
Ich wusste, dass sie eigentlich nur neidisch waren – sie mussten einfach selbst sehr unzufrieden mit sich und ihrem Leben sein. Aber das zu wissen änderte nichts daran, dass ihr Verhalten mir wehtat. Ich wusste, wenn ich rausgehen und vor ihren Augen nach den Grenzsteinen suchen wollte, würden sie nur darauf lauern, mich scheitern zu sehen. Und dann sah ich sie voller Häme und Schadenfreude meinen Misserfolg feiern. Das wollte ich auf keinen Fall erleben.
Aber wie immer ließen mir meine Schmerzen keine Wahl: Mir blieb nichts anderes übrig, als mitten hindurch zu gehen durch all diese schrecklichen Gefühle. Ich musste sie zulassen und wirklich fühlen: Angst, Wut, Ohnmacht, Verzweiflung, Traurigkeit, Demütigung, Scham, Empörung – all das musste ich fühlen. Und was ich jedes Mal wieder wie ein Wunder erlebte: Genau durch dieses Zulassen veränderten sich die Gefühle. So war es immer, früher oder später. Viele, viele Male im Laufe der Wochen spürte ich, wie dicke Knoten in mir sich auflösten.
Ich erinnere mich zum Beispiel, wie einmal der Gedanke aus mir herausbrach: „Diese Menschen sind nicht bereit, ihre eigene Freude und Liebe in ihrem Inneren zuzulassen. Da kann ich ihnen auch nicht helfen, denn meine Freude gehört mir!!!“ Sofort lösten sich meine Schmerzen auf, eine quirlige Kraft schoss zurück in meinen Körper und ich stürzte raus und legte den nächsten Grenzstein frei.
Am Anfang hatte ich noch versucht, mir Unterstützung von anderen zu holen. Einmal ging meine Mutter mit mir auf Grenzsteinsuche und einmal Paul, ein Freund. Aber ich hatte vergessen, dass er genauso sensibel war wie ich: „Ist das nicht furchtbar, wenn man ständig die Gedanken anderer Menschen hört?“ hatte er sich einmal bei mir beklagt. Als wir versuchten, den Grenzstein an der Straße zu finden, fühlten wir uns beide schrecklich unwohl und Erfolg hatten wir auch nicht.
Mir kam es am Anfang so vor, als ob sich die Steine vor mir versteckten. Besonders dieser Stein an der Straße. Ich brauchte bestimmt fünf, sechs Anläufe und es zog sich über Wochen, bis ich ihn endlich fand. Und dann war er noch nicht mal mit Erde bedeckt, sondern nur eine dünne Schicht Moos hatte ihn die ganze Zeit getarnt. Dabei lag auch er haargenau an seinem berechneten Platz. Aber er ließ sich erst dann von mir finden, als ich eine Haltung gefunden hatte, in der ich niemandem mehr erlaubte, auf meine Kosten Spaß zu haben.
Diese Muster wiederholten sich viele Male und mit der Zeit sah ich, wie wertvoll und heilsam diese Erfahrungen für mich waren. Sie machten mir deutlich, wie sehr ich mir selbst schade, wenn ich anderen den Raum überlasse, der eigentlich mir zusteht. Und wie sehr ich meine eigene Lebendigkeit verliere, wenn ich energetische Übergriffe dulde. Es ging also nur äußerlich um die Grenzsteine. Viel bedeutender war, dass ich wirklich gelernt hatte, Grenzen zu setzen: Andere in die Schranken zu weisen, zu dem zu stehen, was mir wichtig ist, zu verteidigen, was mir gehört und nicht mehr zu dulden, was für mich nicht in Ordnung ist. Ich hatte mich verwandelt und ich war so dankbar für das, was diese Erfahrungen in mir zum Vorschein gebracht hatten.
Und mein Garten? Nachdem Heiko sich brav hinter die neue Grenzlinie zurückgezogen hatte, putzte ich auch noch die letzten Winkel meines Grundstücks heraus und ich genoss es unendlich, nun genau zu wissen, was meins war. Noch ein, zwei Jahre lebten wir ganz ohne Kontakt nebeneinander her, bis Heiko eines Tages verschwunden war – einfach weggezogen.

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