Grenzen setzen

Mit richtigen Steinen

kleiner Gartenzaun

Jetzt möchte ich dir von einem Lebensabschnitt erzählen, in dem ich besonders vielen verdrängten Gefühlen begegnet bin. Perfekt auf mich zugeschnittene Erfahrungen brachten diesen Schmerz ans Licht, so dass ich ihn fühlen musste und er sich dadurch auflösen konnte.

 

Damals wohnte ich schon seit ein paar Jahren in diesem niedlichen Häuschen auf dem Land. Als ich eingezogen war, war es rundum zugewachsen mit hohen Büschen und Bäumen, denn mehrere Jahre lang hatte dort so gut wie nie jemand gewohnt. Und auch davor hatte sich anscheinend keiner für den Garten interessiert, so dass ins Haus kaum noch Sonnenlicht kam und alles schattig und dunkel wirkte. Nachdem ich mir das Häuschen schön eingerichtet hatte, fing ich also an, mir den Garten vorzunehmen.

 

Ich hatte kaum Erfahrung damit, aber es machte mir solche Freude, Stück für Stück diesen Dschungel in ein Paradies zu verwandeln! Meine Vermieterin, die meistens im Ausland war, ließ mich nicht nur machen, was ich wollte, sondern sie übernahm sogar die Kosten, als ich nach und nach mehrere riesige Fichten fällen ließ. Den Rest machte ich allein und wenn mir eine neue Idee kam, wunderte ich mich selbst, wieviel Kraft ich auf einmal hatte, obwohl ich doch grad mal einssechzig groß bin: Oft kletterte ich sehr hoch in die Büsche, um sie zu stutzen und ein paar richtige Bäume fällte ich mit meiner kleinen Bügelsäge.

 

So verwandelte sich das verwilderte Chaos im Laufe der Jahre in einen wunderschönen Garten. Alles wurde hell und freundlich und rundherum entstanden Rasenflächen. Die gesamte Atmosphäre, die anfangs so düster und eng gewirkt hatte, wurde nach und nach hell und weiträumig. Aaah… alles schien aufzuatmen.

 

Irgendwann hatte ich mich so sehr ausgebreitet, dass der Bereich, den ich gestaltet hatte, schon in die Nähe der Nachbarn reichte. Bloß leider wusste ich nicht, wo genau die Grenze eigentlich verlief. Meine Vermieterin war kurz nach meinem Einzug einmal mit mir das Grundstück abgelaufen: mehrere tausend Quadratmeter, die übergingen in einen Wald. Genaue Grenzmarkierungen hatte sie mir nicht gezeigt, sondern mir nur eine DIN-A4-Kopie einer Liegenschaftskarte dagelassen – aber mit der konnte ich überhaupt nichts anfangen.

 

Ich war ganz unsicher. Verlief die Grenze vielleicht schon gleich hinter meinen Blumenbeeten? Ich konnte mir aber genauso gut vorstellen, dass sie noch fünf Meter weiter in Richtung der Nachbarn verlief. Je mehr ich darüber nachdachte, desto unsicherer wurde ich. Ich wollte auf keinen Fall die Grenze missachten. Ich wollte nicht aus Versehen einen Busch stutzen oder sogar einen Baum absägen, der den Nachbarn gehörte. Aber gleichzeitig wollte ich mir so gerne alles schön machen, was zu „meinem“ Grundstück gehörte.

 

Während ich noch darüber nachdachte, sah ich meinen Nachbarn Rudolf in seinem Garten. Ich ging also zu ihm und fragte ihn, ob er vielleicht wüsste, wo genau die Grenze zwischen unseren Grundstücken verlief. Seine Reaktion erschreckte mich sehr – er wirkte verärgert und schnauzte mich an: „Wieso willst du das wissen?! Das hat hier noch nie irgendwen interessiert. Hier sind immer alle gut miteinander klargekommen, bevor du hier warst und jetzt kommst du und bringst Unfrieden hierher! Und überhaupt, was wir hier machen, ist alles mit der Eigentümerin abgesprochen. Was sollen diese Fragen, wo du doch nur Mieterin bist?!“

 

Uuuh. Was war das denn? Ich war sofort eingeschüchtert und musste mich in mein Häuschen verkriechen. Was war denn da los? Hatte ich irgendwas nicht mitgekriegt oder falsch verstanden? Die Nachbarn, ein älteres Ehepaar, waren zwei Jahre vor mir in ihr Haus gezogen. Aber, Moment mal… da stand doch mein Häuschen noch leer! Also… natürlich war es da ein Kinderspiel für sie gewesen, mit niemandem aneinander zu geraten – was sollte denn dieser Spruch?

 

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis ich mich etwas beruhigt hatte und dann rief ich meine Vermieterin an. Wir sprachen uns nicht oft, weil ich sie nicht mit Sachen nerven wollte, die ich selber regeln konnte. Aber jetzt erzählte ich ihr von dieser merkwürdigen Begegnung. Sie meinte, dass sie fast noch nie mit den Nachbarn gesprochen hatte, auch nicht über den Grenzverlauf. Auch sie wunderte sich über mein Erlebnis. Aber wo genau die Grundstücksgrenze verlief, konnte sie mir leider auch nicht sagen. Dazu müsste alles neu vermessen werden, das wäre aber so teuer – tausende Euros – dass das leider nicht in Frage käme. Sie meinte, ich sollte mich trotzdem nicht verunsichern lassen und meinen Garten weiterhin so schön gestalten. Außerdem sagte sie mir, dass ich für sie nicht bloß eine Mieterin wäre, sondern ihre Vertreterin, der sie das Häuschen und das Grundstück anvertraut hätte mit der Auflage, mich gut darum zu kümmern und sie sofort zu informieren, falls es Probleme gab. Als sie mir das alles nochmal so deutlich sagte, fühlte ich mich richtig geehrt, dass sie mir so sehr vertraute.

 

Nach diesem Telefonat war ich etwas beruhigt. Ich hatte also gar nichts falsch gemacht und Rudolf hatte anscheinend absichtlich versucht, mich einzuschüchtern. Ich wusste nicht, warum, aber irgendwie passte das zu einigen früheren Begegnungen mit ihm. Diese war nur viel aggressiver gewesen. 

 

Was blieb war der ungeklärte Grenzverlauf. Und der ließ mir einfach keine Ruhe. In den nächsten Tagen merkte ich, wie diese Sache an mir nagte. Im Garten wollte ich jetzt überhaupt nichts mehr in der Nähe dieser unklaren Grenze machen und dadurch fühlte er sich auf einmal viel kleiner an als bisher. Ich grübelte immer wieder darüber nach, was ich machen könnte. Vielleicht doch nochmal mit den Nachbarn reden, so dass wir uns auf eine Grenzlinie einigen könnten? Hmm… schwierige Vorstellung.

 

Irgendwann sah ich ein, dass mir nur eins übrigblieb und dass selbst das vielleicht nicht half: Ich konnte mich auf die Suche nach Grenzsteinen machen und entweder welche finden oder keine finden. Das war meine einzige Chance. Ansonsten würde es keine befriedigende Lösung für mich geben. Und wenn ich es versuchen würde, dann konnte es immerhin sein, dass ich Erfolg hatte. Das hielt ich allerdings für sehr unwahrscheinlich. Denn ich wusste noch nicht mal, ob überhaupt Grenzsteine existierten: Im Internet hatte ich gelesen, dass viele Grundstücke keine haben. Und falls es doch welche gab, waren die vielleicht so alt wie das Haus, also über hundert Jahre alt. Puh, einhundert Mal eine dicke Schicht Herbstlaub. Wie viele Zentimeter – oder Meter – Erde, unter denen die Steine begraben liegen würden, ergab das wohl? Und dann die Karte. Sie war ja das Einzige, woran ich mich orientieren konnte. Es war nur eine schlechte Kopie und ich konnte mir nicht vorstellen, dass der angegebene Maßstab 1:1000 irgendwas mit der Realität zu tun hatte.

 

Aber dann kam mir eine Idee: Ich konnte den Maßstab überprüfen. Denn auf der Karte gab es ja etwas, das ich nachmessen konnte: mein Häuschen. Ich ging also raus und maß die längste Hauswand ab. Mit dieser Länge berechnete ich den Maßstab der Karte, und: 1:1000 war gar nicht soo verkehrt, aber es hätte mich eindeutig in die Irre geführt. Jetzt maß ich alles genauer aus: Die gemeinsame Grenze mit den Nachbarn war knapp 70 Meter lang. Und falls die kleinen Kringel auf der Karte anzeigten, dass dort jeweils ein Grenzstein war, dann gab es insgesamt vier gemeinsame Grenzsteine.

 

Und nun? Wie weiter? Sollte ich jetzt wirklich mit dem Spaten rausgehen und direkt vor Rudolfs Augen nach den Grenzsteinen stochern? Uuuh… Ich wurde auf einmal ganz müde. Diese Vorstellung war mir so unangenehm. Als müsste ich mich währenddessen mit Giftpfeilen beschießen lassen. Und ich würde doch wahrscheinlich sowieso nichts finden – dafür würde ich dann auch noch eine Ladung Schadenfreude von Rudolf ernten. Oje. Bei diesen Gedanken wich alle Kraft aus mir heraus. Vielleicht müsste ich einfach akzeptieren, dass der Verlauf der Grenze ein Rätsel bleiben würde? Aber das klappte nicht. Noch ein paar Tage lang versuchte ich, das ganze Thema zu ignorieren. Aber es ließ mir einfach keine Ruhe mehr. Immer wieder holte ich die Karte hervor und um die Entscheidung zu verschieben, nahm ich sie mir genauer vor: Ich scannte sie und zeichnete sie mit meinem Grafikprogramm nach. Wenn ich sie jetzt am Bildschirm vergrößerte, konnte ich zentimetergenau die Abstände zwischen den Grenzsteinen bestimmen – in der Theorie. Und immer im Hinterkopf, dass es vielleicht gar keine gab.

 

Aber dann sah ich plötzlich wieder einen kleinen Lichtblick. Der Karte nach gab es einen Stein, der sehr nah bei meinem Haus lag. Er wäre nicht auf der Grenze zu den Nachbarn, sondern innerhalb meines Grundstücks – anscheinend war es mal geteilt worden. Dieser Kringel auf der Karte lag mitten in einem dichten Gebüsch, fast fünfzehn Meter von der Nachbarsgrenze entfernt. Wenn ich hier mal probeweise nachschauen würde, ob ich überhaupt einen Stein finden konnte, dann könnte ich das vielleicht ganz heimlich machen. Ich konnte sogar warten, bis Rudolf nicht zuhause war, denn manchmal bekam ich mit, wenn er mit seinem Auto wegfuhr. Falls ich also für einen Moment genügend Mut zusammenkratzen könnte, wollte ich es so machen.

 

Ich musste nicht lange warten. Als ich mich am nächsten Tag gut fühlte und sah, wie Rudolf wegfuhr, nahm ich also mein „Grenzwerkzeug“, das ich mir schon bereitgelegt hatte: Spaten und Handschaufel, eine Mistgabel, eine lange Schnur, einen Zollstock, ein paar Stöckchen und die Karte. Damit ging ich raus zur hintersten Hausecke. Von dort aus spannte ich die Schnur und markierte mit den Stöcken ein paar Stellen, die alle genau 5,47 Meter entfernt im Gebüsch lagen. Ließ sich vielleicht schon irgendwas Auffälliges erkennen? Nein, nichts. Also fing ich an, mit der Mistgabel zu stochern – nichts. Ich kroch immer weiter weg von meinen Markierungen, weil mein berechneter Kartenmaßstab für mich auch nicht mehr als ein Vorschlag war. Nichts zu finden. Und schon gingen mir der Mut und die Kraft aus, so dass ich schnell alles wieder einpackte und mich frustriert auf mein Sofa verkrümelte.

 

Ach Mensch. Doch keine Lösung in Sicht. Ich war traurig. Irgendwie konnte ich mir inzwischen gar nicht mehr vorstellen, mich mit dieser Unklarheit zu arrangieren. Wie sollte ich mich denn überhaupt noch entspannt in meinem Garten bewegen? So lag ich eine ganze Weile deprimiert herum. Aber dann – kam auf einmal meine Kraft zurück. Plötzlich dachte ich: Ich gehe jetzt raus und grabe alles um! Und wenn ich wirklich weit und breit keinen Stein finde – dann bin ich bereit, aufzugeben. Ich ging also mit dem ganzen Zeug wieder raus. Kurz fragte ich mich, ob dieser Rudolf wohl schon zurück war. Aber jetzt war mir sogar das egal.

 

Draußen baute ich alles wieder auf und stocherte als erstes an der Stelle, die ich für die wahrscheinlichste hielt. Dort stocherte ich jeden Zentimeter ab und ich stocherte so tief ich konnte. Nichts. Ich stocherte weiter. Nichts. Ich stocherte weiter. Nichts. Ich stocherte weiter. Plötzlich – Stopp! Da war was. Irgendwas. Direkt neben einem Baumstamm. Sehr tief in der Erde, bestimmt einen halben Meter tief. Und es war auf jeden Fall etwas Hartes. Und weil ich jetzt wirklich gründlich vorgehen wollte, fing ich dort an zu graben. Das war nicht leicht, denn überall wuchsen Efeu und dicke Wurzeln. Aber ich schaufelte weiter, wie besessen. Dann nahm ich meine Hände und buddelte weiter. Bis meine Finger tief unten im Boden plötzlich auf dieses Feste stießen. Als ich weiter wühlte, spürte ich, dass das eine waagerechte Fläche war. Ich grub weiter und kurz darauf konnte ich sehen, dass da eine glatte Steinfläche im Boden lag, schräg unter einer armdicken Wurzel. Oh nein, war das doch bloß eine von diesen Steinplatten, von denen ich im Laufe der Jahre schon so viele in der Erde gefunden hatte? Ich legte mehr von der Fläche frei und einen Moment später konnte ich Ränder ertasten, und… die Ränder waren abgerundet, aber die Fläche war doch eckig – das war ein rechteckiger Stein! Mein Herz raste wild, aber ich traute mich noch nicht zu glauben, dass das wirklich ein Grenzstein sein könnte. Ich buddelte weiter wie ein durchgedrehter Hund in einem Kaninchenloch, ich war schon völlig nassgeschwitzt. Und dann war glasklar: DAS HIER IST EIN GRENZSTEIN!!! Es ist mein Grenzstein!

 

Ich war kurz vorm Platzen vor Freude und Erleichterung – ein Grenzstein!!! Ich konnte es kaum glauben. Auf einmal öffnete sich alles: Diese alte Karte… das waren doch bloß ein paar graue Striche und Punkte… und trotzdem hatte sie mich zu diesem Stein geführt! Vielleicht klappte das wirklich auch mit den anderen Steinen?! Und wenn es hier einen Grenzstein gab… gab es dann vielleicht wirklich noch weitere?! Ich war so überglücklich. Und ich war auch so stolz auf mich. Ich empfand richtig tiefen, warmen Stolz darauf, wie tapfer ich weiter gemacht hatte. Ganz allein, ohne Hilfe. Bis ich den Stein gefunden hatte! Noch nicht mal dieser grimmige Rudolf konnte mich aufhalten. Wie wundervoll!

 

Ich fotografierte „meinen“ Stein in seinem Loch von allen Seiten und schickte Bilder an meine Vermieterin – ganz unten auf dieser Seite findest du eins. Und dann nahm ich mir wieder die Karte vor. Welchen Stein sollte ich als nächstes suchen? Am wichtigsten war mir die Stelle, an der ich mich gerade mit meinen Gartenprojekten weiter ausbreiten wollte. Aber da war leider weit und breit kein Kringel eingezeichnet. Nur die unsichtbare Grenzlinie.

 

Aber ich hatte wieder eine Idee. Auf der Karte konnte ich zur Hälfte auch das Nachbarhaus mit dem angebauten Holzschuppen sehen. Also zeichnete ich eine Linie von meiner hinteren Hausecke bis zur äußersten Ecke dieses Schuppens und maß sie ab bis zur Grenzlinie: umgerechnet 15,24 Meter. Dann befestigte ich draußen wieder meine Schnur und ging damit direkt auf Rudolfs Schuppenecke zu. Bis zu einem Gebüsch, unter dem ich die Linie mit einem Besenstiel verlängerte, so dass ich auf der anderen Seite nach 15,24 Metern die Stelle markieren konnte, an der die Grenze verlief. Dasselbe machte ich mit noch zwei Hausecken, so dass ich jetzt knapp zehn Meter Grenze bestimmen konnte: Genau da, wo ich weiterarbeiten wollte.

 

Das Ergebnis verwirrte mich: Mein Grundstück reichte viel weiter als ich gedacht hatte. Aber vor allem: Die Nachbarn hatten sich auf unserem Grundstück ausgebreitet! Sie hatten dort ein Stück Fläche gepflastert, auf der ihre Mülltonnen in einem Holzschrank und der Plastikmüll lagerten. Und das Brunnenrohr ihrer Gartenpumpe steckte in unserem Garten. Meine Gedanken überschlugen sich – wusste Rudolf das? War er deshalb so wütend gewesen? Ich erzählte sofort meiner Vermieterin von meiner Entdeckung. Wir waren uns beide nicht sicher, ob sich die Nachbarn wohl absichtlich ein paar Quadratmeter von uns stibitzt hatten. Und weil die Mülltonnen nicht wirklich störten, wollten wir deswegen keinen Wirbel machen.

 

Aber ich wollte jetzt weitermachen: Dass meine Suche so gut klappte, beflügelte mich sehr. Jetzt wollte ich die gesamte Grenze zu den Nachbarn ausfindig machen. Also vertiefte ich mich in den nächsten Wochen immer wieder in meine Karte. Zwei weitere Grenzsteine ließen sich ungefähr so leicht – oder schwer – finden wie der erste. Jedes Mal war das ein ganz, ganz bewegender Moment für mich – wie eine superaufregende Schatzsuche! Und ich fand das fast magisch: All diese Steine lagen auf den Zentimeter genau da, wo ich es ausgerechnet hatte!

 

Und dann, als ich auf den dritten Stein stieß, wurde etwas Unglaubliches deutlich: Demnach lag die Grenze an einer Stelle, die für mich eindeutig den Nachbarn gehörte, praktisch mitten in einem Teil ihres Gartens. Es fehlte zwar noch der letzte Stein, aber schon jetzt war klar, dass Rudolf ca. 250 Quadratmeter unseres Grundstücks in Beschlag genommen hatte! Auf dieser Fläche, die ihm überhaupt nicht gehörte, hatten er und seine Frau sich ausgebreitet: Da standen ein Gartenhäuschen, ein Hasenstall, eine Bank, eine Kompostkiste und es gab einen großen Misthaufen für die Gartenabfälle. Rundherum waren alte Äste zu einem Wall aufgetürmt – und das alles auf unserem Grundstück! Ich rief meine Vermieterin an. Durch den Hörer hörte ich ihre Gedanken rasen. Dann sagte sie ganz ruhig: „Das ist nicht gut. Das geht nicht.“ Und so formulierten wir zusammen einen Brief, in dem sie die Nachbarn aufforderte, beide Flächen – die große am Waldrand und die mit den Mülltonnen – zu räumen.

 

Hui… was für eine Entwicklung! Das alles war so unerwartet für mich. Bloß leider – als sich meine Aufregung ein bisschen beruhigt hatte – spürte ich auch eine leise Sorge, dass Rudolf unseren Brief einfach ignorieren könnte. Was sollte ich dann machen? Meine Vermieterin war weit weg. Und noch dazu war sie wirklich ein sehr lieber Mensch. Sie mochte keinen Streit und am Ende würde sie das alles vielleicht doch einfach im Sande verlaufen lassen. Ich spürte ganz deutlich: Wenn ich sicher sein wollte, dass alles in Ordnung kam, dann musste ich selber dafür sorgen. Bloß wie? Es war wie verhext: Irgendwie konnte ich mich gegenüber diesem Rudolf überhaupt nicht durchsetzen. Ich war jedes Mal erschrocken, wie stumm ich blieb, wenn ich ihn traf. Wie ich mich von ihm klein machen ließ. Ich spürte, wie sehr mich sein Verhalten entsetzte und verärgerte, und trotzdem war meine Wut irgendwie in mir gefangen. Aber genau das veränderte sich mit der Zeit. Denn eben weil diese Gefühle mich jetzt so sehr bedrängten, konnte ich sie nicht länger ignorieren. Und wie immer: Genau das veränderte mich. So dass es eines Tages eine Begegnung mit Rudolf gab, in der ich auf einmal ganz anders war.

 

Den letzten Grenzstein hatte ich etwas mehr in unsere Richtung gefunden als erwartet. Rudolf hatte also doch „nur“ ca. 230 Quadratmeter besetzt. Das wollte ich ihm gleich erzählen – vielleicht würde ihn das etwas freundlicher stimmen? Leider klappte das nicht, unser Gespräch lief so frustrierend wie immer:

 

Ich: „Guck mal, Rudolf: Ich habe den letzten Grenzstein gefunden. Es ist das gleiche Modell wie der nächste da oben.“

Rudolf: „Ach was, Papperlapapp. Das sind doch alles keine Grenzsteine.“

Ich: „Du meinst, es ist Zufall, dass diese beiden eckigen Betonsteine genau 28,35 Meter auseinander liegen? Genau so, wie es in der Karte steht?“

Rudolf: „Blödsinn, 28,35 Meter! Das sind doch alles nur Zahlen!“

Ich: „Rudolf! Das ist die offizielle Liegenschaftskarte vom Katasteramt!“

Rudolf: „Ach was, Katasteramt. Die erzählen viel. Was wissen die denn schon, wie das hier aussieht?!“

 

Ich war schockiert und schon wieder sprachlos. Also reagierte ich wie immer: Ich flüchtete. Zurück zum Haus. Rudolf ging auch zurück, auf seinem Grundstück, so dass uns ein riesiges Gebüsch trennte. Und dann, aus einem plötzlichen Impuls heraus, rief ich ihm über diesen Blätterwall hinweg hinterher. Meine Stimme war ruhig, aber wegen der Entfernung rief ich sehr laut, so dass bestimmt noch andere Nachbarn mich hören konnten: „Du reißt deine Klappe aber wirklich ganz schön weit auf – dafür, dass du hier so eine Scheiße gebaut hast!“ Da konnte ich spüren, wie Rudolf zusammenzuckte. So kannte er mich nicht – und so kannte ich mich nicht. Zurück beim Haus bog ich ab zu meinem Holzlager, direkt an der Grundstücksgrenze. Da wartete Rudolf schon auf mich. Er wirkte gereizt und dann sagte er mit drohender Stimme: „Wie bitte?! Was hast du da gerade gesagt?!“ Und da machte ich etwas für mich ganz Neues: Ich ging auf Rudolf zu, bis ich direkt vor ihm stand. Zwischen uns verlief mein nagelneuer Draht, der in Knöchelhöhe die Grenzlinie markierte. Ich guckte Rudolf an und wiederholte ruhig und deutlich: „Ich habe gesagt: Du reißt deine Klappe aber wirklich verdammt weit auf – dafür, dass du da drüben so eine Scheiße gebaut hast.“ Da konnte er nur noch nach Luft schnappen. Ich spürte es: In diesem Moment hatte ich aufgehört, die kleine, dumme Mareike zu sein, mit der er machen konnte, was er wollte. Er konnte mir keine Angst mehr machen. Ich griff mir eine Kiste Holz und ließ den kochenden Rudolf einfach stehen.

 

In meinem Wohnzimmer musste ich selbst erstmal durchatmen. Huh! Das war alles so neu für mich. Ich hatte mich wirklich verändert und dieses Neue fühlte sich soo gut und richtig an! Und in diesem Moment fiel mir plötzlich noch was ein: Ich war noch nicht fertig, ich musste noch etwas zu Ende bringen…

 

Im Frühjahr hatte ich beim Waldrand aufgeräumt. Dort wuchsen seit Jahrzehnten eine Unmenge Rhododendren und Azaleen kreuz und quer vor sich hin. Für mich sahen sie alle viel zu traurig aus: Sie hatten ihre ewiglangen Arme und Fingerchen verzweifelt Richtung Sonne gereckt, wo ihnen dann anscheinend die Puste ausgegangen war, so dass sie am Ende nur noch hier und da ein winziges Blättchen hervorbringen konnten. Diese vielen Pflanzen hatte ich radikal gestutzt, denn das tat ihnen gut: Bald würden sie voller Kraft schön dicht und buschig wieder austreiben. Den größten dieser Rhododendren – eine wirklich unglaublich riesige Krake, fast so groß wie mein Häuschen! – hatte ich zur Hälfte verschont. Denn seine Äste ragten auf einer Seite rüber zu den Nachbarn. Dort hatte Rudolf sie jahrelang immer wieder schön gestutzt, so dass sie inzwischen eine dichte, halbrunde Blätterkuppel genau über seinen besetzten 230 Quadratmetern bildeten. Damals, als ich noch nicht wusste, dass das alles uns gehörte, wollte ich ihm seinen gemütlichen Garten nicht kaputt machen. Also hatte ich diesen uralten Rhododendron zur Hälfte stehen gelassen.

 

Aber jetzt wollte ich niemanden mehr schonen. Also schnappte ich mir meine Säge und stampfte hoch zum Waldrand. Dort sägte ich innerhalb von fünf Minuten diese übriggebliebenen oberschenkeldicken Äste einen knappen Meter über dem Boden ab – und Rudolfs riesiger Sichtschutz stürzte in sich zusammen und entblößte ab sofort sein dreistes Geheimnis.

 

Kurz darauf konnte ich zugucken, wie er Stück für Stück unser Grundstück räumte. Eine Entschuldigung hörte ich nie von ihm. Und auch meine Vermieterin nicht, soweit ich weiß – ich bin sicher, das hätte sie mir gleich erzählt.

 

Was für eine Wende. Und erst hinterher sah ich, wie groß diese Veränderung war. Ich konnte spüren, wie sehr Rudolf mich jetzt hasste, viel mehr als vorher. Und da wurde mir klar: Das kann er jetzt ruhig. Von mir aus kann er kochen und toben und schäumen vor Wut – aber ab sofort nur noch auf seinem Grundstück. Es war, als ob ich ihm einfach die Tür vor der Nase zugemacht hätte, so dass ich jetzt hier bei mir ganz unabhängig von ihm mein Leben genießen konnte. Aaah, das fühlte sich so gut und richtig an! Und erst da konnte ich sehen, wie ich solchen Leuten wie diesem Rudolf viel zu viel Raum in meinem Leben gegeben hatte. Denn nicht nur er hatte mich so von oben herab behandelt wie ein kleines Dummerchen. Sondern das war ein Muster in mir selbst gewesen. Viele Menschen waren genau so mit mir umgegangen. Weil ich es ihnen erlaubt hatte – und das hatte sich jetzt verändert.

 

Das Anstrengendste war für mich jedes Mal gewesen, aus meinem Haus zu treten und mich auf die Suche nach den Steinen zu machen. Da war ein so riesiger Widerstand in mir, dass ich oft nur stundenlang schmerzgekrümmt auf meinem Sofa liegen konnte. Etwas in mir sträubte sich so sehr dagegen, meinen Nachbarn zu begegnen. Nicht nur Rudolf und seiner Frau, sondern auch seinen anderen Nachbarn, mit denen er befreundet war. Und einer der Grenzpunkte lag auch noch direkt an der Straße. Immer wenn ich weitersuchen wollte, fühlte ich mich wie gelähmt: Einerseits wünschte ich mir eine klare Grundstücksgrenze. Aber andererseits wollte ich diesen Menschen nicht begegnen. Aber warum? Warum war da diese überwältigende Abwehr in mir? Als ich sie zuließ, konnte ich erkennen, dass es mir zwar egal war, was andere Leute über mich dachten. Dass ich wirklich nicht von allen gemocht werden musste. Aber was mich so sehr stresste war, dass andere es oft nicht dabei beließen, mich nicht zu mögen. Es war also nicht so, dass sie merkten, dass sie mich nicht mochten, mich dann links liegen ließen und ihrer eigenen Wege gingen. Nein, denn in Wahrheit ging es ihnen nur darum, mir meine Freude zu verderben: Sie hatten Spaß daran, mich fertig zu machen.

 

Vielleicht fragst du dich, ob das nicht nur in meiner Fantasie so war? Aber ich hatte gelernt, meiner Wahrnehmung zu vertrauen. Gleich nach meinem Einzug hatte ich nämlich schonmal so eine Gehässigkeit von Rudolf und auch von seinen Nachbarn wahrgenommen. Aber weil ich sie kaum kannte, war ich sicher, dass ich mir das einbilden musste. Ich wollte sowas doch niemandem unterstellen. Trotzdem spürte ich diese Negativität so stark, dass ich mir irgendwann erlaubte, drinnen zu bleiben, wenn ich mich zu unwohl fühlte. Ich wollte mich zu nichts mehr zwingen und Raum lassen für eine bessere Lösung.

 

Und die kam. Denn nach ein, zwei Jahren wurde es ruhiger. Und irgendwann wurde Rudolf sogar richtig freundlich zu mir, bis ich eines Tages zum Kaffee bei ihm im Garten saß. Ich fragte ihn, was los war, ob er sich vielleicht mit den Nachbarn gestritten hätte. Und da meinte er: „Ich war es leid und konnte es nicht mehr hören – es ging immer nur ‚Mareike hier, Mareike da, Mareike hat dieses gemacht, Mareike hat jenes getan – Mareike, Mareike, Mareike‘. Das wurde mir irgendwann zu blöd.“ Huh! Was für eine Bestätigung! Dann hatte ich mir also gar nichts eingebildet: Diese Leute hatten wirklich von morgens bis abends über mich abgelästert! Ich wollte nie wieder meine Wahrnehmung anzweifeln.

 

Und jetzt hatte ich mich also wieder so schlecht gefühlt beim Gedanken daran, nach den Grenzsteinen zu suchen. Ich wusste, dass diese Leute nur darauf lauern würden, mich scheitern zu sehen. Und auch, dass sie eigentlich nur neidisch waren: In Wahrheit mussten sie sehr unglücklich mit sich und ihrem Leben sein. Aber das zu wissen änderte nichts daran, dass mir ihr Verhalten wehtat. Ich sah sie schon voller Schadenfreude meinen Misserfolg feiern und das wollte ich auf keinen Fall erleben. Ich kannte aber nur eine Möglichkeit, um mich so nicht behandeln zu lassen: indem ich solchen Menschen ganz aus dem Weg ging. Jetzt war das schwierig – wenn ich die Grenzsteine finden wollte, dann musste ich das Risiko eingehen, dabei von diesen Leuten gesehen zu werden.

 

Wie immer blieb mir nichts anderes übrig, als mitten hindurch zu gehen durch all diese schrecklichen Gefühle. Ich musste sie da sein lassen und wirklich fühlen: Angst, Wut, Ohnmacht, Verzweiflung, Traurigkeit, Demütigung, Scham, Empörung. Und wieder konnte ich viele Male im Laufe dieser Wochen spüren, wie all diese Gefühle genau durch dieses Zulassen dahinschmolzen und sich wie dicke, alte Knoten auflösten. Ich erinnere mich zum Beispiel, wie einmal der Gedanke aus mir herausbrach: Diese Leute sind nicht bereit, ihre innere Freude zuzulassen. Da kann ich ihnen auch nicht helfen, denn meine Freude gehört mir!!! Sofort lösten sich meine Schmerzen auf, eine quirlige Kraft schoss zurück in meinen Körper und ich stürzte raus und legte den nächsten Grenzstein frei.

 

Am Anfang war es fast so, als ob sich die Steine vor mir verstecken würden. Besonders dieser Stein an der Straße. Ich brauchte bestimmt fünf, sechs Anläufe und es zog sich über Wochen, bis ich ihn endlich fand. Und dann war er noch nicht mal mit Erde bedeckt, sondern nur eine dünne Schicht Moos hatte ihn die ganze Zeit getarnt und auch er lag haargenau an seinem berechneten Platz. Aber er ließ sich erst dann von mir finden, als ich meine Grenzen geklärt hatte. So lief das jedes Mal und mit der Zeit sah ich, wie heilsam diese Erfahrungen für mich waren. Sie zeigten mir, dass ich meine eigene Lebendigkeit verliere, wenn ich anderen den Raum überlasse, der eigentlich mir zusteht. Ich hatte also wirklich gelernt, Grenzen zu setzen: andere in die Schranken zu weisen, zu dem zu stehen, was mir wichtig ist, zu verteidigen, was mir gehört und nicht mehr zu dulden, was für mich nicht in Ordnung ist. Da, wo vorher so viel Angst und Zögern in mir war, spürte ich jetzt eine große, gesunde Kraft und ich war so dankbar für das, was diese Erfahrungen mit mir gemacht hatten.

 

Und mein Garten? Nachdem Rudolf sich brav hinter die neue Grenzlinie zurückgezogen hatte, putzte ich auch noch die letzten Winkel meines Grundstücks heraus und ich genoss es unendlich, jetzt genau zu wissen, was meins war. Noch ein, zwei Jahre lebten wir ganz ohne Kontakt nebeneinander her. Bis Rudolf eines Tages verschwunden war: einfach weggezogen.

ein alter Grenzstein wurde freigelegt
Meine Nummer Eins!

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Kommentare: 2
  • #1

    Elke Priewe (Sonntag, 04 Juni 2023 21:25)

    Hallo Mareike,

    diese Zeilen sollen zu Dir.
    Ich bin auch ein sehr feinfühliger Mensch, schon als Kind. Jedoch haben, Eltern, Lehrer, Freunde usw. etwas anderes aus mir gemacht. Meine Erleuchtung war am Meer. Eine Brise Wind hat meinen Körper "umspült", ein irres Erlebnis, ich fühle es noch heute.
    Dies ist Jahre her, jedoch habe ich seit dem an mir gearbeitet und tue es heute noch, voller Freude.
    Was du in diesem Beitrag beschreibst, habe ich die letzten Wochen auch in mir aufgelöst. Ein regelrechtes Verbot, nicht den Mund aufmachen zu dürfen. Ausgelöst durch meinen Vater, der immer sagte:" Elke sei still, was du sagen willst, ist eh Unsinn." Für ihn war es Unsinn, da er ein sehr oberflächlicher Mensch war.
    Um das aufzulösen, musste ich noch einmal eine Job kündigen, nach 6 Wochen, da es mir nicht mehr möglich war, dort weiter zu arbeiten. Dank an die Kolleg:innen, die so waren, wie sie waren. Wirklich ein Geschenk.
    Jetzt habe ich den Job, der mir wirklich entspricht und freu mich auf jede Situation, in der ich meinen Mund aufmache und wachse und wachse, herrlich.
    Mareike, dir lieben Dank, dass du Dich zeigst. Von uns gibt es viele und wir sollten denen helfen, die noch nicht so weit sind. Damit wir immer mehr werden, die strahlen.
    Herzliche Grüße aus Hannover
    Elke Priewe

  • #2

    Mareike (Sonntag, 04 Juni 2023 21:31)

    Liebe Elke,
    ich kann mich an deinen Namen erinnern, ich freue mich, dass du hier bist!
    Von meinem Vater habe ich den gleichen Spruch gehört wie du, sobald ich den Mund aufgemacht habe. Und mir geht es genauso, dass ich mich freue, wenn ich in mir etwas finde, das raus will und mir dann erlaube, es auszudrücken - aaaaah, ich will nie mehr wieder damit aufhören!
    Ganz liebe Grüße zu dir!