Deine Zeit ist da

Endlich sichtbar werden

Blume im Asphalt

Heute ist wieder so ein besonders erdrückender Tag für mich. Ich kann kaum atmen. Da ist so eine Schwere auf meinem Brustkorb: In der rechten Seite steckt ein riesiger Klumpen Schwere. Erst wirkt er so groß wie eine Bowlingkugel, aber wenn ich mich traue, wirklich hinein zu spüren, dann wird er so groß wie ein Haus – kein Wunder, dass meine Lunge dagegen schlapp macht. Was ist da nur los? Ich spüre nach… Der Klumpen ist kugelrund und er besteht aus einem komischen Material: Es wirkt wie dunkelbraunes, zerkautes Kaugummi, das seit einer Ewigkeit an der Luft lag. Aha… ein riesiger, steinharter Kaugummikloß also. Wenn ich jetzt noch genauer hinschaue, dann sieht es für mich so aus: Es wirkt, als ob jemand unseren gesamten Planeten mit allem, was dazugehört, erst in kleine Stückchen zerbröckelt, diese Brösel dann ein paarmal umgerührt und zum Abschluss diesen ganzen Mix zu einer festen Kugel zusammengestampft hätte.

 

Und jetzt kann ich auch einzelne Menschen in diesem Kaugummiklumpen erkennen. Hmm… das ist ja merkwürdig – das wundert mich jetzt: Die Stimmung ist super! Ja, wirklich. Ah, jetzt sehe ich auch den Grund dafür: Es gibt Empfang! Und weil die Menschen auch während dieser riesigen Zerknetung ihre normale Körperhaltung beibehalten haben, hält jetzt jeder von ihnen sein geliebtes Smartphone vor der Nase. Und damit ist für sie alles bestens! Trotzdem wundere ich mich über die fröhliche Stimmung in diesem braunen Chaos – es sieht einfach nicht schön aus. Aber dann erfahre ich, dass diese Menschen hier alle so randvoll mit Antidepressiva sind, dass es für sie überhaupt keine schlechten Tage mehr gibt, deshalb ist also auch dieser Tag gut. Und die Leute sehen sogar einen besonderen Vorteil darin, dass jetzt alle so bombenfest in diesem Klumpen stecken: Weil sich niemand mehr bewegen kann, kann auch niemand mehr irgendwem zu nah kommen. Und deshalb fallen beim Kommentieren und Posten in den sozialen Netzwerken jetzt endgültig alle Hemmungen – die Menschen sind euphorisch: Es lebe der ultimative Shitstorm!

 

Oh nein, was ist denn das? Es ist so schrecklich, was ich da sehe. Und was soll das? Was soll ich mit diesem Bild anfangen? Ich lasse das alles auf mich wirken und nach einer Weile kann ich noch etwas anderes in diesem braunen Planetenklumpen erkennen. Wie wenn die Augen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen müssen, dauert es eine Weile, bis ich es sehe: In der ganzen Kugel wie kleine Schokostreusel verteilt sind noch eine andere „Sorte“ Menschen zwischen all diesen „Homo smartiens“: Das sind kleinere Menschen – sie wirken irgendwie durchsichtiger, blasser und zarter. Und die… sind nicht glücklich. Nein, sie sind ganz, ganz unglücklich über ihre Situation. Sie sind stille, unscheinbare Menschen, Einzelgänger, die sich immer im Hintergrund gehalten hatten. Sie waren noch nie so eng in Kontakt mit anderen Leuten. Und was sie da jetzt rund um sich herum sehen, macht sie so traurig, es bricht ihnen das Herz. Wie konnte die Menschheit bloß so verrohen? Wie konnte sich alles so verkehrt entwickeln? Was ist das für ein würdeloses Niveau, in dem sich alle so bequem eingerichtet haben?

 

So verzweifelt kauern diese leisen Menschen jeder ganz für sich allein mitten unter diesen grölenden Horden. Sie sind sogar zu traurig, um zu weinen. Wie konnte die Welt so tief fallen? Diese unsichtbaren Menschen wollten nie ihren Glauben an das Gute in uns aufgeben. Sie wollten nie daran zweifeln, dass jeder Mensch in Wahrheit liebenswert und wohlmeinend ist. Und jetzt das hier. Wie sollte man denn da nicht endgültig verzweifeln?

 

Jetzt kann ich auch dich erkennen, als eins von diesen so unglücklichen Wesen. Du steckst da, in deinem Kummer und deiner Hoffnungslosigkeit. Ich sehe dich und ich bin auch ganz ratlos – und das könnte ja wirklich genauso gut ich selbst sein. Ich sehe dich und mein ganzes Mitgefühl möchte zu dir fließen, wie du da hockst und die Verzweiflung dich zermürbt.

 

Aber ich kann nichts tun, mir fällt nichts ein. Ich kann das Ganze nur weiter auf mich wirken lassen. Und dann, irgendwann, ganz leise, verändert sich doch etwas. Erst merke ich es fast gar nicht. Aber dann, ah ja: Es sieht so aus, als ob du dich an irgendwas erinnerst. Ja, du erinnerst dich, warum du hier sein wolltest. Hier unten auf der Erde, in dieser traurigen Zeit. Du wolltest hier sein, aber trotzdem hattest du dich erstmal nur im Hintergrund gehalten. Weil du den richtigen Moment abwarten wolltest. Du wolltest nichts überstürzen und du warst dir einfach nicht sicher, wann du hervortreten solltest. Du warst dir nicht sicher, ob du wirklich schon bereit dazu warst. Und jetzt auf einmal wird dir klar, dass diese Frage gar keine Rolle mehr spielt. Sie hat sich erledigt, du brauchst nicht mehr darüber nachdenken, wann der beste Zeitpunkt für dich sein könnte, um sichtbar zu werden. Diese Frage löst sich auf einmal in Luft auf, denn: Plötzlich platzt dir einfach der Kragen. Dir reicht‘s jetzt einfach. Du hast keine Lust mehr, auch nur noch eine Sekunde länger darüber nachzudenken. Plötzlich weißt du glasklar: Du hast lange genug gewartet!

 

Jetzt willst du hier sein. Mit deinem wundervollen Wissen über dich selbst, das du in dir entdeckt hast. Jetzt willst du, ganz im Bewusstsein deiner Seele, hier sein. Jetzt willst du in die Welt kommen. Mit allem, was dir wichtig ist und allem, was für dich bedeutsam und wertvoll ist, du hast einfach keine Lust mehr, es noch länger in dir geheim zu halten, das kommt dir auf einmal nur noch verkehrt vor. Ja, du hast lange genug gewartet. Jetzt willst du hier sein und aufblühen und deinen Platz einnehmen – und all das Wunderschöne und Kostbare, das du in dir entdeckt hast, in dieses Leben in diese Welt bringen. Auf diesen magischen Planeten, der so viel mehr verdient hat, als einen Haufen abgestumpfter Grobiane auszuhalten. Diese Erde, die wie geschaffen ist für empfindsame Seelenwesen, die sich selbst mit allen Sinnen erfahren möchten.

 

Jetzt soll dein wirkliches Ich in die Welt kommen. Es ist so wunderschön und es ist zart und zerbrechlich. Aber gleichzeitig ist es so groß und so kraftvoll, dass es alles verändert: Es bringt Tiefgründiges und Feinfühliges hierher. Erfahrungen, die berührend und bewegend sind. Wie eine wilde Pflanze, die sogar durch harten Asphalt ihren Weg findet, kommst du an die Oberfläche dieses grauen Kaugummiklumpens, um endlich dein echtes Ich zu entfalten. Um endlich wirklich hier zu sein.

 

Und wenn du ganz hier bist – mit allem, was dich ausmacht, mit allem, was du liebst – dann können auch diese Smartphone-Leute ruhig hierbleiben. Wir werden sie nicht bekämpfen oder wegschicken, das wäre ja viel zu anstrengend. Es könnte aber gut sein, dass dann auf einmal sie sich gar nicht mehr so wohl hier fühlen – zwischen dieser vielen echten Lebendigkeit und Beseeltheit und Sinnlichkeit und Empfindsamkeit. Bei all diesen intensiven Eindrücken und Erfahrungen könnte es passieren, dass plötzlich sie sich ganz verkehrt hier fühlen. Aber das ist ja dann zum Glück nicht mehr unser Problem. 

 

  

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Kommentare: 3
  • #1

    Luisa (Samstag, 03 Dezember 2022 13:36)

    Liebe Mareike, deine Worte sprechen mir so sehr aus dem Herzen. Jeder Satz ist so rührend, berührend, sinnlich und herzerwärmend. Ein großes Geschenk.

  • #2

    Mareike (Samstag, 03 Dezember 2022 13:37)

    DANKE! Liebe Luisa!

  • #3

    Felicitas Maria (Sonntag, 16 April 2023 13:32)

    ♥️♥️♥️