Ein treuer Folterknecht

Mein intimes Gruselmonster

Innere Dämonen

Falls es dir wichtig ist, meinen Blog wirklich ganz auszukosten, dann empfehle ich dir, meine Artikel nicht gleich an dem Tag zu lesen, an dem ich sie veröffentliche. Denn erst im Laufe der nächsten Tage kristallisiert sich heraus, was ich eigentlich damit sagen will. Anders geht es leider nicht. Denn erst wenn es wirklich ernst wird, wenn meine Texte richtig „on air“ sind, spüre ich, wenn irgendwas daran nicht stimmig oder unklar ist oder wenn noch etwas fehlt.

 

Oft stelle ich dann sogar panisch fest, dass ich manches davon lieber überhaupt nicht so gesagt hätte: Dann merke ich plötzlich erst, dass ich irgendwas doch ganz anders meine oder dass ich etwas geschrieben habe, das ich mir selber nicht glaube. Das ist mir dann so peinlich, dass ich so einen Artikel am liebsten sofort wieder unsichtbar machen möchte. Aber dann ist es zu spät dafür. Weil etwas das unmöglich macht – und damit bin ich auch schon bei dem Thema, von dem ich dir heute erzählen möchte.

 

In mir wohnt jemand, der mir panische Angst einjagen kann. Er ist kein Mensch, sondern ein Monster. Das mich quält. Sein Name ist Boris und sein Beruf: Folterknecht. Er ist ein Vollprofi, ein echter Meister in seinem Handwerk. Stell ihn dir so vor: Er ist bestimmt 2,30 Meter groß, er wiegt über 200 Kilo, ist voller borstiger Haare und er spricht nicht. Er bleibt einfach völlig stumm, aber wenn ich ihm eine Stimme geben müsste, dann würde er klingen wie so ein russischer Auftragskiller in einem fiesen Thriller.

 

Seit ich meinen Blog gestartet habe, schiebt Boris Überstunden. Und falls du dich wunderst, wieso meine Texte dir so nahe gehen: Bedank dich bei ihm, denn er zwingt mich, so zu schreiben. Alles andere hält er einfach für Zeitverschwendung und sein Auftraggeber hat ihm befohlen, sowas auf gar keinen Fall zu dulden. Manchmal ist er noch einigermaßen höflich. Dann stehe ich morgens auf und merke, dass er da ist: Denn dann hat er seinen zentnerschweren Arm auf meiner Schulter abgelegt, so als ob er ihn nur zufällig gerade da vergessen hätte. Dazu macht er ein Pokerface, obwohl ich sicher bin, dass das in Wahrheit auch für ihn überhaupt nicht bequem ist. Das interessiert ihn aber gar nicht: Er lässt seinen Arm einfach da liegen und folgt mir so durch meinen Tag. Früher oder später zwingt mich dieses Gewicht in die Knie, so dass ich mich hinlegen muss. Und dann wird es erst richtig unangenehm…

 

Denn dann pflanzt sich dieser Boris mit seinem gesamten Gewicht auf meinen Brustkorb. Oft steht er sogar extra noch mal kurz auf, um mir noch eben ein Messer in den Rücken zu rammen! So liege ich dann da und kann mich nicht mehr bewegen. Ich möchte weinen, aber das geht nicht: Denn nicht nur das Blut in meinen Adern, sondern alles in mir ist schockgefroren. Ich flehe Boris an, dass er mich erlösen soll. Oder dass er doch wenigstens mit mir sprechen soll. Dass er mir erklären soll, was das alles soll, womit ich das verdient habe und was ich tun kann, damit er aufhört?! Aber er verzieht keine Miene und tut so, als ob er mich gar nicht hört. Und nicht nur das: Jetzt stützt er seinen schweren Oberkörper mit einer Hand mitten auf meinem Gesicht ab, so dass sich mein Kopf verdreht. Und mit der anderen Hand – er muss genau wissen, wie sehr ich das hasse! – fängt er an, gelangweilt auf seinem Handy herumzuwischen!

 

Uuuuaaaaaaahhhhh!!! Hiiiiilfeeeee!!! Hört mich denn keiner??!!

 

Das ist also Boris. Und gestern Nacht hat er wieder zugeschlagen. Da hatte ich gerade den Artikel über meine geliebte Webseite nochmal überarbeitet und wie immer war Boris gleich hinterher in meinem Bett aufgetaucht. Sein Gewicht auf mir machte mir Bauchschmerzen – dachte ich eigentlich. Aber dann… wurde mir bewusst, dass das in Wahrheit mein Artikel war. Dass der irgendwie doch noch nicht ganz rund war. Irgendwas stimmte damit noch nicht. Aber was bloß? Ich verstand einfach nicht, warum es mir so schlecht ging. Das war doch jetzt eigentlich eine sehr schöne Geschichte, oder? Sie gefiel mir und ich war glücklich darüber. Also was sollte jetzt schon wieder dieser Aufstand? Es war eindeutig, dass Boris das ganz anders sah. Und wie immer sagte er kein Wort. In unserer Standardposition hatte er mich in der Mangel, so dass an Schlaf nicht zu denken war. Was wollte er noch von mir?! Ich war es so leid und ich war so müde. So lag ich da, zerquetscht unter diesem fetten Kerl und nach und nach löste ich mich unter seinem Gewicht immer mehr auf. Ich wurde immer schwächer und kleiner, bis nichts mehr von mir übrig war.

 

Und dann, nach einer Ewigkeit – endlich – kapierte ich es. Plötzlich verstand ich ihn. Denn ich erinnerte mich – auf einmal wusste ich wieder, warum dieser merkwürdige Boris überhaupt bei mir war: Weil er eine unfassbar treue Seele ist. Weil er hundertprozentig loyal gegenüber seinem Auftraggeber ist. Und weil dieser Auftraggeber – ich selbst war.

 

Ich hatte gewählt, worum es in meinem Leben gehen sollte – was ich verwirklichen und erreichen wollte. Und weil ich hier auf der Erde nun mal ein ganz normaler Mensch sein würde, wusste ich, dass das schwierig werden könnte. Dass ich es mir sehr wahrscheinlich bei jeder Gelegenheit gemütlich machen würde und meine großen Pläne in den hintersten Winkel meines Bewusstseins verdrängen würde: Ich würde immer wieder so tun, als ob ich nicht wüsste, wer ich wirklich bin und als ob ich nicht den leisesten Schimmer hätte, worum es in meinem Leben eigentlich geht. Und deshalb: hatte ich Boris engagiert. Ich selbst war das.

 

Ich hatte ihn in meine Träume eingeweiht und ihm eingeschärft: „Boris, wenn du siehst, dass ich trödele oder mich doof stelle oder so tue, als wäre alles in Ordnung, wenn etwas in Wahrheit überhaupt nicht in Ordnung ist: Dann wirst du mich wieder einnorden. Egal mit welchen Mitteln, das überlasse ich ganz dir. Aber sorge unter allen Umständen dafür, dass ich solche Spielchen sein lasse!“

 

Deshalb saß er jetzt also wieder betonschwer auf mir drauf – uff. Aber in diesem Moment wurde alles zumindest ein kleines bisschen leichter, weil ich jetzt immerhin wieder wusste, dass überhaupt nichts verkehrt war, sondern alles eben doch völlig mit rechten Dingen zuging. Ich kapierte bloß noch nicht, was der genaue Grund für diese Folter ausgerechnet jetzt war. Wo war ich denn nicht ehrlich und aufrichtig mit mir selbst? Wo hatte ich meine Träume aus dem Blick verloren – oder sogar verraten? Ich öffnete mich jetzt also dafür, wirklich ehrlich auf mein Leben zu schauen. Und dann: fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

 

Es waren drei Kommentare in meinem Blog, mit denen ich mich nicht so richtig wohlgefühlt hatte. Und jetzt erst konnte ich mir eingestehen, dass das ganz anders war. Denn ich hatte mich gar nicht nur „nicht richtig wohl“ damit gefühlt – sondern in Wahrheit fand ich sie absolut inakzeptabel für meine Webseite! Aber die ganze Zeit wollte ich so gerne nett und verständnisvoll und tolerant sein, so dass ich mir mein ungutes Gefühl selbst nicht eingestanden hatte. Und in diesem Moment war plötzlich meine Klarheit zurück. Und nicht meine bisherige Klarheit, sondern eine viel größere, auf einem ganz neuen Niveau.

 

Denn plötzlich konnte ich sehen, was für eine wundervolle und friedliche Oase ich da vor allem mit meinem Blog mitten im chaotischen, hässlichen, lärmenden Internet geschaffen hatte. Und dass ich einfach nicht zulassen konnte, dass irgendwer diese ganz besondere Atmosphäre auch nur irgendwie beeinträchtigt. Nein, das würde ich nie wieder dulden. Aaaah… wie unglaublich wichtig, das zu wissen! Wie konnte ich diesen großen Missstand nur übersehen? Ein Glück, dass Boris aufgepasst hat! In diesem Moment wollte ich mich zu ihm recken und ihn umarmen und ihm einen Kuss auf seine kratzige Wange drücken – aber er war schon wieder weg. Wie ein Luftballon, dem die Luft ausgeht, war er in sich zusammengeschrumpft. Und hatte sich in einen warmen, flauschig-weichen Kater verwandelt und sich gemütlich in meinem Bauch zusammengerollt. Er gähnte noch einmal in seiner typisch gelangweilten Art und schlief dann leise schnurrend ein.

 

Und ich sprang auf – mitten in der Nacht! – und korrigierte das Ende meiner Webseiten-Geschichte. Aaaah – jetzt ist sie wirklich fertig!

 

Wenn ich in die Welt hineinspüre, dann habe ich den Eindruck, dass dies die Zeit der Monster, Drachen und Dämonen ist. Ja, dass die Coronapandemie sogar wie eine Ermutigung war, sich ihnen zuzuwenden und dadurch zu wachsen und sich zu entfalten – denn sie hat es uns so schwer gemacht, vor ihnen wegzulaufen und uns abzulenken. Also wenn es dir schlecht geht und du müde, erschöpft oder depressiv bist: Dann spür doch mal nach, ob das nicht vielleicht dein eigener, ganz persönlicher, von dir beauftragter Boris ist, der dich an dein eigentliches Vorhaben für dieses Leben erinnern will: zu sein, wer du wirklich bist. 

  

 Nächster Blogbeitrag ➔

Kommentar schreiben

Kommentare: 0